Sonntag, 2. Februar 2014

DIE ZEIT N° 06 / 2014 - Väter - Wir glauben nicht mehr an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Geht alles gar nicht

Dass sich Kinder und Karriere vereinbaren lassen, ist eine Lüge. Zeit für mehr Ehrlichkeit

VON HEINRICH WEFING UND MARC BROST

Sind wir gerne Väter? Ja, absolut, von ganzem Herzen.

Sind wir gerne Journalisten? Ja, leidenschaftlich gerne.

Und, geht beides zusammen?

Die übliche Antwort lautet: Ja, klar. Manchmal hakt es ein bisschen, manchmal sind alle ein bisschen erschöpft – Vater, Mutter, Kinder. »Urlaubsreif« nennen wir das. Aber im Großen und Ganzen? Gibt es kein Problem. Wir sind ja prima organisiert, im Job und zu Hause, wir sind diszipliniert, wir wollen, dass alles klappt. Also klappt es auch, irgendwie.

Die Wahrheit ist: Es ist die Hölle.

Sonntagmorgen, irgendein Bolzplatz in Deutschland. Fußball mit anderen Vätern und deren Kindern. Der eigene Sohn hat sich die ganze Woche darauf gefreut. Man selbst auch. Und dann steht man auf dem Platz und spielt irgendwie mit, aber eigentlich ist es nur eine Hülle, die da spielt, denn die Gedanken sind ganz woanders. Bei der Mail des Vorgesetzten, die kurz vor Spielbeginn angekommen ist. Beim nächsten Interview, am Montagmorgen. Und dann kommt man nach Hause und fragt sich, warum es schon wieder nicht möglich war, sich wenigstens diesmal vollständig einzulassen auf das Spiel; warum man nicht abschalten konnte.
Aber dann liegt da das Smartphone, und sein rotes Lämpchen blinkt unaufhörlich, also greift man danach und liest und fängt an zu tippen. Und hört gar nicht mehr, wie der Sohn fragt, ob man das Tor gesehen habe, das er vorhin geschossen habe. Jede Mail, jede schnell geschriebene SMS ist ein kleiner Verrat: wieder eine Minute, die man für die Arbeit geopfert hat, obwohl man an diesem Wochenende versprochen hatte, wirklich nur für die Familie da zu sein.
Sogar Sigmar Gabriel nimmt sich doch jetzt Zeit für seine Tochter, holt sie mittwochnachmittags aus der Kita ab und braust dafür mit Chauffeur und Personenschützern nach Goslar. Wenn der das schafft, warum dann nicht wir?

Also tüfteln wir mit unseren Partnerinnen einen Plan aus, gleichen die Terminkalender ab, die Woche im Halbstundentakt. Wer kümmert sich wann um die Kinder? Wer bringt sie zum Geburtstagsfest des Freundes? Wer fährt sie am Wochenende zum Turnier? Hier quetschen wir noch eine Stunde Sport rein, donnerstags geht sie zum Chor, da musst du um sieben da sein! Die Familie wird zur Fahrgemeinschaft, aus Paaren werden Partner in der Logistikbranche.

Und wenn wir übermenschlich diszipliniert wären, keine einzige Besprechung mehr überziehen würden, nie länger am Telefon hingen als unbedingt nötig, nur noch die superwichtigen Abendtermine wahrnehmen würden, dann, ja dann könnte das auch wunderbar klappen. Nicht vorgesehen im Wochenplan ist allerdings: dass ein Kind Grippe hat. Dass der Wagen nicht anspringt. Dass ein Zug sich verspätet. Dass auch die supereffizienten Eltern mal verschlafen oder krank werden. Auch nicht vorgesehen ist: Zeit für sich. Zeit zu zweit. Aber das ist ja nicht so schlimm. Wir wissen ja, es kommt nicht auf die Quantität der gemeinsamen Zeit an, sondern auf die Qualität.

Leider wissen wir auch: Das ist ein Selbstbetrug. Eine Lüge. Denn unsere Kinder kennen keine quality time. Das Gerede von der quality time verschleiert nur, dass das Zeitproblem einfach ungelöst ist.

Sigmar Gabriel übrigens hatte, bevor er sich entschloss, seine Tochter immer mittwochs aus der Kita abzuholen, auch schon mal eine Auszeit für die Familie genommen. Drei Monate Väterzeit. Gleich in den ersten Tagen twitterte er ein Bild von sich, vor dem Laptop sitzend, die Kaffeetasse in der Hand: »Mariechen ist abgefüttert, der Kaffee ist da, also kann’s losgehen :-))«. Und dann diskutierte er online eine Stunde lang über die Rente, den Euro, die SPD. Genau das ist er doch, der tägliche Selbstbetrug: Man glaubt, Zeit für die Kinder zu haben – und hängt dann am Laptop, iPad oder Smartphone.

Aber warum ist es nur so verdammt schwer, Kinder und Ehe und Beruf unter einen Hut zu bekommen? Warum sind wir erschöpft und müde und einfach erledigt, warum haben wir ständig das Gefühl, dass wir zu wenig Zeit für alles haben: für die Kinder, für den Job, für die Partnerin, für uns selbst?

Sprechen wir also über Erwartungen. Auch früher gab es Erwartungen an Väter und Mütter, aber sie waren klarer und eindeutiger, weil es auch klare und eindeutige Rollen gab. Heute dagegen gibt es unendlich viele Erwartungen, weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt, eine gute Mutter und ein guter Vater zu sein, und deswegen scheint es das Beste zu sein, einfach alle Erwartungen zu erfüllen.

Also will man der liebevollste Vater überhaupt sein; der Vater, der immer Zeit zum Spielen hat; der die tollsten Sachen mit Lego baut; ein Vater, der nie schimpft und schreit und niemals ärgerlich ist. Dann will man der beste Ehemann von allen sein, der immer zuhört; der natürlich weiß, wie man die Waschmaschine und den Trockner füllt, und der das auch macht und auch die Hemden selber bügelt; man will wunderbar kochen und morgens den schönsten Frühstückstisch überhaupt decken können. Man will ein sensationeller Liebhaber sein und gleichzeitig eine starke Schulter zum Ausweinen haben; sensibel und erfolgreich sein.

Und natürlich gilt das alles auch spiegelbildlich: Wir wollen Frauen, die tolle Mütter sind, erfolgreich im Beruf und kulturell interessiert. Dass sie manchmal müde sind und abgespannt und keine Topmodelhaut haben, geschenkt. Wir verlangen ja nichts Unmögliches. Wir wollen ihren Rat, Gespräche auf Augenhöhe, wollen an den Kabalen in ihren Agenturen, ihren Büros genauso teilhaben wie umgekehrt. Wir wollen ihnen Freiräume für ihre Karriere schaffen, wollen ihnen den Rücken stärken, wenn es bei ihnen im Job brennt.
Es gibt kaum mehr Momente der Zweisamkeit und noch weniger die der Gelassenheit
Und dann? Hat man schon wieder keine Zeit, wenn die Kinder spielen wollen; liegt die schmutzige Wäsche herum; musste die Partnerin doch wieder einen Babysitter organisieren, weil man ausgerechnet an dem Abend, an dem sie überraschend in ein Meeting musste, noch ein wichtiges Hintergrundgespräch hatte; war das Frühstück ein Reinfall, weil man nicht zugehört hatte, als die Ehefrau sagte, dass man den Namen ihrer Chefin schon wieder verwechselt habe. Und das mit dem Sex ... ach, lassen wir das.

Das Bedrückende daran ist nicht nur der gewaltige Stress, den all das verursacht. Viel bedrückender ist, dass man vor lauter Erschöpfung die Sprache verliert: dass man nicht einmal mit der Partnerin oder dem Partner über all das reden kann, obwohl man natürlich ahnt, eigentlich sogar weiß, dass es dem anderen genauso geht. Aber es gibt sie einfach kaum mehr, die Momente der Zweisamkeit und, vor allem, der Gelassenheit. Denn wann soll man sich gegenseitig erzählen, was einen so beschäftigt? Wann soll man zuhören, Rat geben, miteinander abwägen und sich stützen? Wann lässt man sich wirklich noch ganz aufeinander ein – ohne Ablenkung von außen? Ohne dass im eigenen Kopf ein Sturm von Gedanken tobt, über den Tag, über den Job, über das schlechte Gewissen und die Ausreden, die man sich zurechtlegt, weil man wieder nicht geschafft hat, was man unbedingt schaffen wollte?

Es gibt auch niemanden, den wir um Rat fragen können. Unsere Eltern nicht, weil sie diese Situation nie erlebt haben, es war anders bei ihnen, alles begann gerade erst, sich zu verändern, und es war noch nicht so durcheinandergeschüttelt wie heute. Wir sind Pioniere, die erste Generation, die tatsächlich versucht, Gleichberechtigung zu leben. »Was gehen mich die Kinder an, ich mach Karriere!« – das ist für uns keine denkbare Haltung mehr.

Wir können auch schlecht mit unseren Chefs reden, selbst wenn sie mindestens so grau und abgearbeitet aussehen wie wir. Sie haben ein noch brachialeres Pensum.

Und wir können keine anderen Eltern fragen, denn meistens will man bei einem gemeinsamen Essen mit Freunden eben nicht wieder nur über Kinder oder den Job sprechen, sondern auch mal über etwas anderes – und damit entsteht die Illusion, dass es bei den anderen doch alles ganz gut klappt und nur bei einem selbst nicht. Nur ganz selten, wenn es sehr spät geworden ist und die Kinder im Bett sind und wenn schon sehr viel Rotwein getrunken wurde, dann bricht es aus allen heraus.

Dann erzählt die Kollegin, dass sie am Wochenende nur heimlich simst, um Kinder und Partner nicht zu verärgern; ganz so, als habe sie eine Affäre.

Dann erzählt das befreundete Paar, beide Vollzeit, drei Kinder aus zwei Beziehungen, wie ihnen der Sohn ins Gesicht schrie: »So wie ihr will ich nicht leben!«

Dann gibt es Geschichten über Schlafmangel und Migräne und Bandscheibenvorfälle.

Dann erfährt man, dass es keine Familie gibt, die nicht fast permanent am Rande des Wahnsinns operiert.

In einem schönen, melancholischen Essay in der Literarischen Welt hat die Schriftstellerin Julia Franck gerade notiert, Schreiben und Kinder seien im Grunde unvereinbar. »Wenn ich schreibe, kann ich nicht mit meinen Kindern sein, und wenn ich mit meinen Kindern bin, kann ich nicht schreiben. Dieser Zwiespalt erzeugt eine enorm hohe Spannung, weil ich in beidem voller Hingabe lebe, beides ist Hingabe und Liebe.« Und sie resümiert: »Man erlebt das Leben als ständiges Scheitern.«
Man müsste eine perfekte Persönlichkeitsspaltung hinbekommen, um uneingeschränkt in beiden Sphären leben zu können
Wir sind keine Schriftsteller, nur Journalisten. Aber diese Spannung, die kennen wir auch. Und das Gefühl des Scheiterns. Alle kennen das, Väter wie Mütter.

Eigentlich müsste man eine perfekte Persönlichkeitsspaltung hinbekommen, um uneingeschränkt in beiden Sphären leben zu können. Ein wenig schizophren ist es ja auch, wenn wir auf dem Kinderzimmerboden liegen, mit Rennautos spielen und dabei aufs iPad schauen. Aber vielleicht sind wir einfach nicht schizophren genug?

Oder sind wir bloß Weicheier, Heulsusen? Überfordert von den eigenen Ambitionen? Kinder zu haben war ja nie leicht. Früher starben viele Säuglinge, herrschte Hunger, Kriege verheerten das Land. Es gab existenzielle Sorgen und Nöte, neben denen sich unsere Befindlichkeiten heute marginal ausnehmen. Und mal ehrlich: Wir sind wohlhabende Mittelschichtseltern. Wir brauchen keine zwei oder drei Jobs gleichzeitig, damit wir überhaupt über die Runden kommen, so wie manch andere Eltern in diesem Land. Wir haben keine Überlebenssorgen.

Aber Lebenssorgen sind es dennoch. Der Berliner Soziologe Hans Bertram nennt uns »die überforderte Generation«. Nicht nur, weil wir immer so müde sind und blass. Es gibt auch handfeste soziologische Gründe dafür, dass wir derart unter Strom stehen. Zum einen, weil es noch nie in einer Generation so viele Singles und kinderlose Paare gab. Deren ökonomische Situation ist im Durchschnitt deutlich besser als die von Familien mit Kindern, von Alleinerziehenden ganz zu schweigen. So viel Konkurrenz produziert: Stress.

Zum anderen, weil immer mehr Frauen ihr erstes Kind um die dreißig oder später bekommen und deswegen die zehn, fünfzehn intensivsten (aufregendsten, schönsten) Jahre der Erziehung und der Fürsorge für die Kinder gerade bei hoch qualifizierten Frauen und Männern exakt mit den Jahren der ersten Karrieresprünge zusammenfallen. Bertram nennt das die »Rushhour der Biografien«. Noch bei unseren Eltern waren diese beiden Phasen stärker verschoben, die Zeit der Doppelbelastung also kürzer. Bei uns bedeutet es: noch mehr Stress.

Aber was heißt das alles? Was ist die Konsequenz? Zurück in die Fünfziger, Mutti wieder an den Herd, Vati geht arbeiten?

Natürlich nicht. Dass Frauen Karriere machen, ist gut. Gut für die Frauen, gut für die Gesellschaft. Dass Männer sich mehr um ihre Kinder kümmern, ist auch gut. Gut für die Kinder, für die Männer und für die Gesellschaft. Und wenn sich immer mehr Männer um ihre Kinder kümmern wollen, erzeugt das Druck auf die Wirtschaft, flexibler zu werden. Auch das ist gut.

Was dann? Noch mehr staatliche Interventionen, Fördermodelle? Die Familienpolitiker lassen uns glauben, dass alles nur eine Frage von Geld und Organisation wäre. Und dass zu den unzähligen familienpolitischen Leistungen und den fast 200 Milliarden Euro, die der Staat jedes Jahr für Familien ausgibt, nur ein paar weitere Leistungen hinzukommen müssten, dann würde schon vieles besser. Sie reden von Splittingmodellen und Teilzeitarbeit oder davon, dass der Staat die Arbeitszeit für junge Eltern begrenzen könnte, auf 32 Stunden in der Woche. Das ist ihr Versprechen. Aber in Wahrheit ist es doch so, dass die Grenze zwischen Arbeitszeit und privater Zeit längst durchlässig geworden ist, weil man immer erreichbar sein muss und, ja, auch immer erreichbar sein will. Die moderne Arbeitswelt hat sich enorm beschleunigt und gleichzeitig verdichtet, alle erleben das. Die Familienpolitiker aber lassen einen glauben, dass es gar nichts ausmachen würde, wenn dann noch ein Kind dazukommt.

Weil Selbstausbeutung auch keine Lösung ist, wird eine Konsequenz längst gezogen, jeden Tag, jedes Jahr, in aller Stille, überall in Deutschland (und der westlichen Welt): Frauen, gerade hoch qualifizierte, entscheiden sich gegen Kinder. Mitunter nicht bewusst, häufig (noch) nicht endgültig, aber seit Jahren mit großer Konstanz, all den Beihilfen und Kita-Ausbauplänen zum Trotz. Je besser ausgebildet eine junge Frau ist, je realer ihre Chance auf eine anspruchsvolle Karriere, desto weniger Kinder bringt sie auf die Welt. Eine Frau, die in der Landwirtschaft arbeitet, bekommt, statistisch gesehen, 2,2 Kinder. Die durchschnittliche Bundesbürgerin 1,2, eine Hochschullehrerin nur 1,0.

Hilfreich wäre also schlicht: Ehrlichkeit. Denn Kinder schaffen Glück, Glück, Glück! Und: Stress, Stress, Stress! Unweigerlich. Beides.

Es gibt keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Wer es versucht mit Kindern, Ehe und Beruf, lässt sich auf ein Abenteuer ein. Ein Abenteuer, das Schmerzen und Zweifel und Grenzerfahrungen bringt. Viele scheitern daran. Aber es könnte schon eine Hilfe sein, das einmal auszusprechen, statt immer weiter die Vereinbarkeitslüge zu verbreiten. Denn auch die produziert wieder nur: Stress.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.