Zwischen Subway und HiFive Chicken, umrahmt von Wohnblocks, versteckt sich die Filiale von BC Cannabis. An einem grauen Novembertag kann man das Geschäft am Rand von Vancouver leicht übersehen. Milchglas versperrt die Sicht ins Innere, es gibt keine Leuchtreklame wie bei anderen Geschäften, ein schwarzes Banner verkündet, fast flüsternd: "Now open 7 days a week". Es scheint, als habe der Betreiber des Cannabisladens, die Provinzregierung British Columbias, wenig Interesse an Kunden.
Sobald man das Geschäft betritt, ändert sich die Stimmung: ein grell beleuchteter Raum mit weißen Wänden und Kameraüberwachung, in dem man als Kunde sofort im Fokus steht. "Hi, wie geht’s, dürfte ich einmal zwei Ausweise sehen?", sagt ein junger Mann. So sei nun einmal die Vorschrift: zwei verschiedene Dokumente sollen belegen, dass man über 19 Jahre alt ist. Nur dann darf man den Laden betreten.
Er überreicht auch einen Zettel, auf dem man den Einkauf notieren kann: vorgedrehte Joints, getrocknete Blüten in verschiedenen Packungsgrößen mit Namen wie "Blue Dream", "Freshly Baked" oder "Noisy Neighbour". Fruchtgummis und Eistee, Lippenbalsam, Badesalz, Öle und Cremes – alles cannabishaltig. Die Glasvitrinen sind voll. Dennoch riecht es kaum nach Gras. Der Cannabisladen ist das Gegenteil eines schummrigen Headshops, ein klinisch reines Aufklärungsbüro.
Überall hängen Schilder mit Erläuterungen. Darauf liest man, dass beim Cannabis nur die weibliche Hanfpflanze die entscheidenden Stoffe enthält: THC (Tetrahydrocannabinol), das für den Rausch sorgt, und das am zweithäufigsten vorkommende CBD (Cannabidiol), das eher entspannend wirken soll. "Die Blüten können in Form der getrockneten Pflanze inhaliert oder ihre Stoffe extrahiert werden", steht dort. Und dass sich je nach Pflanzenart die Konzentrationen der Cannabinoide THC und CBD unterschiedlich verteilen.
Dann taucht eine "Cannabisberaterin" auf. "Wie kann ich Ihnen helfen?", fragt die Frau freundlich. Neben ihr leuchten Appelle auf Bildschirmen: "Don’t drive high", "Know your limit". Und: "Thanks for shopping legal!" Es scheint, als wolle Kanada sein Cannabis-Angebot von außen so unsichtbar wie möglich gestalten – und wirklich hartnäckigen Interessenten vor dem Kauf mindestens ein Diplom abverlangen.
Vor drei Jahren hat das Land die Abgabe von Cannabis legalisiert; nun ist dieses Experiment gerade aus deutscher Sicht interessant. Denn die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP plant künftig auch hierzulande "die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften". So steht es im Koalitionsvertrag. Damit folgt die neue Regierung einem Trend zur Entkriminalisierung von Cannabis, der auch schon andere Länder erfasst hat (siehe Infobox am Artikelende). Wie genau die Abgabe gestaltet werden soll, steht allerdings nicht im Koalitionsvertrag.
Die Legalisierung von Cannabis passt zu einer Gesellschaft, in der der Staat auch bei Nikotin und Alkohol auf Eigenverantwortung setzt. Im Wahlprogramm der SPD hieß es: "Verbote und Kriminalisierung haben den Konsum nicht gesenkt, sie stehen einer effektiven Suchtprävention und dem Jugendschutz entgegen." Eine Freigabe des Stoffs, prognostiziert eine Studie des Düsseldorf Institute for Competition Economics (die von der Hanf-Industrie in Auftrag gegeben wurde), würde jährlich 4,7 Milliarden Euro aus Steuern und Einsparungen im Rechtssystem in die Staatskasse spülen.
Dem stehen jedoch teilweise große Bedenken gegenüber. Eine internationale Studie in der Fachzeitschrift Jama Psychiatry zeigte kürzlich, dass selbst geringer Cannabiskonsum bei Heranwachsenden das Frontalhirn schädigen kann, welches sich bis zum Alter von Mitte 20 entwickelt. Betroffen sei vor allem jene Hirnregion, die dafür zuständig ist, Impulse zu kontrollieren, Probleme zu lösen und Handlungen zu planen. CSU-Generalsekretär Markus Blume sagte, die Legalisierung mache "eine gesundheitsschädliche Droge zu einem Lifestyle-Produkt".
Deshalb lohnt ein Blick nach Kanada. Das Land wirkt wie ein großes Labor, in dem Forschungsfragen beantwortet werden: Was passiert, wenn Cannabis über die Ladentheken geht wie Alkohol und Zigaretten? Steigt der Konsum der Droge? Sinkt die Beschaffungskriminalität? Wie verändert sich die Gesellschaft insgesamt?
Fragt man David Hammond, was die Legalisierung in Kanada bewirkt habe, sagt er: "Weniger, als Sie denken." Der Gesundheitswissenschaftler an der University of Waterloo leitet eine mehrjährige Studie zur Cannabis-Legalisierung in seinem Land. Kurz vor der Legalisierung im Jahr 2018 erhoben er und sein Team die ersten Daten, um Vergleichswerte für die Jahre danach zu haben. Dabei befragten sie Menschen zu Konsum, Kaufverhalten und ihren Einstellungen gegenüber der Droge.
Seither habe sich die soziale Akzeptanz der Droge "kaum verändert, selbst unter Jugendlichen", resümiert Hammond, "zudem nutzen die Konsumenten ähnliche Produkte wie vor der Legalisierung". Selbst die Kauforte für Cannabis seien vielfach dieselben geblieben – denn in vielen kanadischen Provinzen dauerten sowohl die Einführung der staatlichen als auch die Lizenzierung der privaten Geschäfte so lang, dass zu Beginn kaum welche geöffnet waren. Deshalb schrumpfte der Schwarzmarkt anfangs nur langsam.
Doch Hammond sieht einen Trend: "Der illegale Markt ist weiterhin groß, aber immer mehr Menschen kaufen ihr Cannabis legal." 2020 betrug der Umsatz der legalen Branche bereits 2,6 Milliarden kanadische Dollar, umgerechnet 1,8 Milliarden Euro. Und allein in seinem eigenen Viertel in Waterloo, einer Kleinstadt nahe Toronto, gebe es vier Cannabisgeschäfte in Laufweite, sagt er. "Der Kauf dort geht schneller, als wenn ich einen Dealer anrufen würde."
Der Gesundheitswissenschaftler wirkt zufrieden mit der Strategie der Regierung. Deren Vorgaben lauten so: Alle Kanadier ab 18 Jahren dürfen in der Öffentlichkeit bis zu 30 Gramm getrocknetes Cannabis bei sich tragen. Nutzt man andere Produkte, bietet die Regierung im Internet einen Rechner an, mit dem man Einkäufe umrechnen kann. Zu Hause dürfen die Kanadier bis zu vier Pflanzen besitzen. Gleichzeitig gelten verschärfte Strafen: Wer Cannabis an Minderjährige verkauft, dem drohen nun bis zu 14 Jahre Gefängnis. Die gleichen Sanktionen gelten für den Drogenschmuggel außer Landes. Den Verkauf selbst überlässt das Gesetz den 16 kanadischen Provinzen und Territorien. Sie regeln, ob öffentliche oder private Geschäfte den Stoff anbieten; in British Columbia gibt es zum Beispiel nicht nur die BC-Cannabis-Filialen, sondern auch private Geschäfte. Hergestellt werden die Produkte von staatlich lizenzierten Unternehmen.
Eine Entwicklung jedoch wird viele Kritiker in Deutschland aufhorchen lassen: In Kanada gibt es heute mehr Konsumenten als vor der Legalisierung. Die Zahl der Menschen über 15 Jahre, die in den vergangenen drei Monaten Cannabis konsumierten, stieg von 14 Prozent im Jahr 2018 auf 17,5 Prozent in den Monaten nach der Legalisierung und auf 20 Prozent Ende 2020. Und während vor der Legalisierung 5,4 Prozent der Befragten angaben, "täglich oder fast täglich" zu konsumieren, waren es Ende 2020 bereits 7,9 Prozent – bei den 18- bis 24-Jährigen stieg der betreffende Wert sogar von 9,9 Prozent auf 16,3 Prozent.
Was bedeutet das? Heißt das auch, dass mehr Jugendliche süchtig werden, wäre ein ähnlicher Schritt in Deutschland fatal? Zeit für einen Zoom-Anruf bei Jürgen Rehm. Der Suchtforscher ist leitender Wissenschaftler am Zentrum für Suchterkrankungen und psychische Gesundheit in Toronto und wurde in den vergangenen zwei Jahren sowohl von den Grünen als auch von der SPD zu verschiedenen Veranstaltungen zum Thema Substanzpolitik eingeladen.
Der Deutsche sitzt auf seiner Couch und wirkt nicht sehr alarmiert. Tatsächlich zeigten erste, noch unveröffentlichte Daten, dass die Abhängigkeit in den vergangenen Jahren leicht gestiegen sei, ebenso wie die Intensität des Konsums und die Inanspruchnahme von Therapieangeboten. Es sei aber unklar, ob das wirklich an der Legalisierung liege; der Anstieg könnte auch andere Gründe haben: "Der durchschnittliche THC-Gehalt im Cannabis ist in den vergangenen 50 Jahren global stark angestiegen", sagt Rehm, "von im Durchschnitt unter zwei Prozent in den Siebzigerjahren bis auf derzeit zwölf Prozent oder in manchen Regionen mehr." Damit nehme natürlich auch das gesundheitliche Risiko zu.
Das heißt: Der leichte Anstieg der Abhängigkeiten könnte mit der Legalisierung gar nichts zu tun haben. Darauf weist auch Rehms Kollege David Hammond hin – schließlich habe der Cannabiskonsum unter Jugendlichen schon in den Jahren vor der Legalisierung zugenommen. Eine endgültige Antwort mag derzeit niemand geben. Die kanadische Ärztekammer etwa will sich auf Anfrage zu den Folgen der Freigabe gar nicht äußern: Es sei noch zu früh.
Rehm sagt, die verschleppte Öffnung der kanadischen Verkaufsstellen erschwere die Vergleichbarkeit mit der Zeit davor und somit eindeutige Aussagen über den Effekt der Legalisierung. Klar scheint aber: Eine sprunghafte Zunahme von Suchtkranken, die in Deutschland manche befürchten, lässt sich in Kanada nicht beobachten.
Aus deutscher Sicht müsse man zusätzlich eines beachten, sagt Rehm: Die kanadische Gesellschaft habe schon länger ein entspannteres Verhältnis zu Cannabis. Bereits 1972 empfahl dort eine von der Regierung eingesetzte Kommission, Cannabis zu entkriminalisieren, seit 2001 ist medizinisches Cannabis legal. Und als 2013 der heutige Premierminister Justin Trudeau verriet, er habe schon mehrmals gekifft, auch während seiner Zeit als Abgeordneter, gab es keinen Aufschrei.
In Kanada ist die Droge also schon länger Teil des Alltags. Das spiegelt auch der Vergleich der Zahlen aus der Zeit vor der Legalisierung wider: In Deutschland sagten 2018 nur drei Prozent der über 18-Jährigen, sie hätten in den vergangenen 30 Tagen Cannabis konsumiert; in Kanada waren es, wie schon erwähnt, 14 Prozent der über 15-Jährigen, die in den vergangenen drei Monaten Cannabis konsumiert hatten. Schaut man sich in Vancouvers Geschäften um, bestätigt sich der Eindruck – die Kunden dort sind fast immer Menschen, die schon vor der Legalisierung regelmäßig Cannabis konsumierten. Zum Beispiel Alex. Die 33-Jährige raucht Gras, seit sie 15 ist; sie habe einen guten Arzt, vor der Legalisierung habe der ihr netterweise medizinisches Cannabis verschrieben, obwohl sie nicht krank war. Oder Robin, 46, der sich an einem Freitagnachmittag hoch konzentriertes Cannabis-Öl kauft – am Abend, bevor er und seine Frau mit den Kindern Brettspiele spielen, gönne er sich ab und zu ein Tröpfchen. Oder Chris Monk, 52, der pro Woche drei Gramm Blüten raucht und sagt, er sei froh, dass er sich nicht mehr bei Dämmerung mit seinem Dealer treffen müsse.
Vor diesem Hintergrund wirkt Kanadas Legalisierung pragmatisch. Die Regierung hat einen Schwarzmarkt in die Legalität überführt, in einer Gesellschaft, die weiß, dass Cannabis durch Verbote nicht verschwinden wird. Auch in Deutschland gibt es einen großen Schwarzmarkt: Laut Handelsblatt schätzen ihn Branchenexperten auf über 200 Tonnen Cannabis pro Jahr, bei Preisen von zehn Euro pro Gramm wären das also zwei Milliarden Euro.
Parallel zur Freigabe des Rauschmittels hat Kanada angefangen, massiv in die Prävention zu investieren. Umgerechnet 70 Millionen Euro will die Regierung zwischen 2018 und 2024 ausgeben, unter anderem für Informationskampagnen, um die Öffentlichkeit über die Risiken aufzuklären; in Provinzen wie New Brunswick fließt ein Teil der Steuereinnahmen aus dem legalen Verkauf in eine Stiftung zur Cannabis-Aufklärung.
Der größte Vorteil der Legalisierung liegt für Experten darin, dass die Nutzer nun wissen, welche Inhaltsstoffe ihr Produkt enthält. Auch der THC-Gehalt muss auf der Packung stehen. Auf dem Schwarzmarkt müsse man dagegen seinem Dealer glauben, sagt Hammond. Die Legalisierung verbessere zudem die Datenerhebung, sagt Rehm: "Wir wissen nicht, ob Menschen, die aus Angst vor Konsequenzen vorher angegeben haben, gar nicht oder nur einmal im Monat zu kiffen, in Wirklichkeit viel öfter konsumiert haben."
Die Angst vor Konsequenzen ist ein Argument, das in Kanada oft für die Richtigkeit der Legalisierung angeführt wird – vor allem von nicht weißen Menschen. Der Soziologe Akwasi Owusu-Bempah von der University of Toronto sagt: "Schwarze und indigene Menschen wurden vor der Legalisierung deutlich häufiger wegen Cannabisbesitzes festgenommen und angeklagt als Weiße" – obwohl sie die Droge statistisch gesehen nicht häufiger nutzen und einen kleineren Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen würden. Für seine Provinz hat er das in einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie nachgewiesen. 2017 verzeichneten die kanadischen Behörden über 38.000 Fälle von illegalem Cannabisbesitz, 2020 nur noch 1400 Fälle. Somit würden Menschen seltener Opfer des racialized policing, sagt Owusu-Bempah. Hier mache sich der Effekt der Freigabe am klarsten bemerkbar.
Was also kann Deutschland von Kanada lernen? Aus Sicht von David Hammond ist das Quebec-Modell am lehrreichsten. Die Provinz an der Ostküste Kanadas verfolgt in der Legalisierung den restriktivsten Ansatz des Landes: Alle Geschäfte werden von der Provinzregierung betrieben, Pflanzen zu Hause sind weiterhin verboten, ebenso wie Produkte mit besonders hohem THC-Gehalt wie Öle und Konzentrate. Zudem wird Cannabis dort nur an Personen ab 21 Jahren verkauft.
Auf diese Weise habe die Provinz Quebec die negativen Aspekte einer Kriminalisierung von Cannabis beseitigt und gleichzeitig die positiven Effekte einer Freigabe am besten hervorgehoben: So blieb in Quebec die Konsumentenzahl nach der Legalisierung stabil, auch bei den Jüngeren; die Daten zeigen sogar einen Rückgang des "fast täglichen" Konsums.
Wenn deutsche Politiker wissen wollten, wie eine kluge Cannabis-Legalisierung aussehe, so Hammond, würde er ihnen eine Reise nach Quebec empfehlen.
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